Im Gespräch
Die Hauptstadt
19. 10. 2017 / Von Klaus Zeyringer
Robert Menasse liest nach seiner Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis erstmals in Österreich.
Der Applaus schwillt kaum ab, im Saal ist kein freier Platz, kein freies Winkelchen. Mit einer Magnumflasche Wein und mit immensem Beifall gratulieren das ULNÖ und das Publikum Robert Menasse zum Deutschen Buchpreis. Dann zückt er sein iPhone und fragt, ob er vom Podium in die Reihen fotografieren dürfe: "ein Bild einer qualifizierten Öffentlichkeit".
Um Öffentlichkeit, um die heutige europäische Gesellschaft dreht sich sein mit höchsten Ehren bedachtes Buch. "Romane sind verrückt", sagt eine Kulturbeamtin bei der EU in Brüssel - in Menasses Roman Die Hauptstadt. Mit Recherchen und mit seinen Essays hat er sich für sein Erzählkunstwerk vorbereitet, 2012 erschien Der europäische Landbote, 2014 Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa. Entweder gehe das Europa der Nationalstaaten unter, oder es gehe das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter, ist sein Fazit. Sein Plädoyer fordert ein Europa der Regionen, eine Europäische Republik. Das wurde der Buchpreisgeehrte in den vielen Interviews nicht müde zu betonen, in denen er meist mehr zum Politischen als zum Literarischen befragt wurde.
Verrückte Romane
Nun, auf dem Podium des Literaturhauses, geht es um die Literatur. Die Kulturbeamtin, die Romane "verrückt" nennt, meint die Gattung. Deren Blütezeit begann im 19. Jahrhundert; auf die großen französischen Gesellschaftsromane der Zeit hat Robert Menasse oft und oft Bezug genommen. Er verwies auf Balzac, er nannte seinen 2007 erschienenen Roman Don Juan de la Mancha im Untertitel "Die Erziehung der Lust", spielte damit auf Flaubert an und schuf eine gegenwärtige Education sentimentale - und Die Hauptstadt leitet ein Motto von Victor Hugo ein. Dass der Roman laut Balzac in kompositorischer Einheit die systematische Erkundung der Räder der Gesellschaft sein möge, hat Menasse bestens bedacht. Er hat ein Zeitbild geschaffen, wie es eindringlicher, anschaulicher und erkenntnisreicher in anderen Textsorten kaum erstehen könnte. Mit Weitblick und Tiefenschärfe vermag er das Allgemeine im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen darzustellen. Dabei ist es keine geringe Herausforderung, die Europäische Union zu erzählen, eine Institution, die als Ausbund von Komplexität und Unübersichtlichkeit gilt.
Menasses kluge Komposition lässt die Protagonisten neben- und miteinander agieren. Er entwickelt ihre Charaktere in einer Vielfalt der Perspektiven; in beredter Topographie zeigt er viele Etagen der EU, zudem Brüssels Oberfläche und Untergrund, führt er nach Griechenland, Zypern, Österreich, Polen - in Auschwitz bündeln sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (man betrachte das Buchcover genau!). Dazu kommt eine Reihe literarischer Verweise, besonders auf Musils Mann ohne Eigenschaften: Ein Hauptstrang der Handlung ist ein Jubiläumsprojekt der EU-Kommission.
Interessiert sie nicht
Im Roman selbst spielt der Terminus "Vorgeschichte" eine Rolle, auch poetologisch. Es habe ihn immer gewundert, sagt Robert Menasse auf dem ULNÖ-Podium, "dass Romane genau am Beginn anfangen. Erst später erfährt man bei vielen Figuren: Es war vieles davor." Womit beginnen, wann kann eine Erzählung sinnvoller Weise einsetzen? "Es ist eine romantheoretische Frage, aber es ist auch eine Lebensfrage: Die Prägungen, die man hat, um so zu sein, wie man ist." Das treffe eben auch auf die Figur in Die Hauptstadt zu, die meint, Romane seien verrückt. Es ist Fenia Xenopoulou, eine griechische Zypriotin, die sich fragt, ab wann Familiengeschichte prägend sei. Oder auf unsere Welt bezogen: "Wir leben in einer Zeit, in der die Rahmenbedingungen unseres Lebens auf einem ganzen Kontinent in einer Stadt produziert werden - was es historisch noch nie gegeben hat. Und das nennen wir EU." Wenn man nun sage, man wolle erzählen, wie es Beamten in der EU ergehe, werde wohl die Mehrheit der Menschen antworten, das interessiere sie nicht: Sie hätten da so ihre Vorstellungen, die seien erschütternd genug.
Im Europäischen Landboten schreibt Robert Menasse, "dass es die meisten Menschen langweilt, wenn man, selbst in kürzester Form, die Geschichte der EU erzählt" - und fügt hinzu: "Ich bin ein Freund dieser Langeweile." Ja, sagt er auf dem Podium, "denn der Zusammenbruch der EU würde spannende Zeiten zur Folge haben, die ich nicht erleben möchte." Er habe sich zu Beginn seiner Arbeit am Roman vorgestellt, er gehe nach Brüssel und dringe dort in den Maschinenraum der Realitätsproduktion ein. Er wollte erkunden, ob dies erzählbar sei und ob die Menschen, die dort arbeiten, "literaturtauglich" seien. Dies sei jedoch eigentlich eine kokette Fragestellung, denn "alles, was menschengemacht ist, kann man erzählen". Allerdings habe er zuvor nicht gewusst, wie groß der Unterschied und die Konflikte zwischen den verschiedenen Institutionen seien, während wir alles unter "Brüssel" zusammenfassen. So seien seit Mitte der neunziger Jahren die Vorschläge der Kommission zur Flüchtlingsfrage im Europäischen Rat, dem Sitz der nationalen Regierungschefs und Minister, "einer Wagenburg der nationalen Interessen", regelmäßig und systematisch "zerrissen" worden. Und als dann 2015 die Flüchtlinge in Massen kamen, gab es kein einziges gültiges Regelwerk:
Jede mögliche Reaktion war im rechtsfreien Raum - aber das war nicht die Schuld der EU, sondern die Schuld der Nationalstaaten selbst. Beim Krisengipfel der Außenminister im September 2015 hat der österreichische Außenminister gemeinsam mit Kollegen ein letztes Veto gegen eine gemeinsame Asylpolitik eingelegt; und dann ist er nach Österreich zurückgekommen, hat sich ins Fernsehen gestellt und gesagt: Ihr seht, Europa funktioniert nicht; wir müssen eine nationale Lösung finden.
Im Prolog von Die Hauptstadt, den Menasse nun vorliest, treffen zufälligerweise die Hauptfiguren und ein unerhörtes Ereignis auf einem Brüsseler Platz aufeinander oder bewegen sich dort nebeneinander - es ist der konzentrierte Einsatz eines Arrangements der vielen Erzählstränge.
In den Institutionen arbeiten Menschen, betont Robert Menasse, und in Brüssel habe er möglichst viele Menschen treffen wollen, um sie dann für den Roman zu typisieren. "Gibt es verschiedene Typen, aus denen man Figuren gewinnen kann", habe er sich gefragt. Für die Romanfiktion habe er sich auf reale Zustände und Vorgänge stützen können: "Sie können mir glauben, ich bin phantasiebegabt; aber es gibt Dinge, die kann man nicht erfinden." Eine Beamtin der Kulturabteilung habe ihm, wie er es im Europäischen Landboten beschreibt, tatsächlich gesagt: "Romane sind verrückt." Die Kulturdirektion habe wenig Budget und Kompetenzen, deswegen gelte es als Karriereknick, in der Kultur zu landen. In dieser Abteilung spielen viele Szenen dieses Gesellschaftsromans; aber er bietet auch eine Reihe von Figuren und Handlungen, die nicht direkt mit der EU zu tun haben. So ersteht etwa eine Kriminalgeschichte, die geradezu der Konter eines Krimis ist: Gleich im Prolog erfährt man den Namen des Mörders, jenen des Opfers jedoch nie.
Langer Schatten der NATO
Bei der Arbeit am Roman sei ihm klar geworden, dass es in Brüssel ja auch Menschen gebe, die nicht in den europäischen Institutionen arbeiten, sagt Robert Menasse. "Ich wollte Brüssel miterzählen, auch als Sitz der NATO". So seien der Kommissar Brunfaut und sein Freund, der Anderlecht-Anhänger, als Figuren vor ihm gestanden. Die Kriminalgeschichte zeige, welch langen Schatten die NATO auf die Stadt werfe und welche Rolle die Geheimdienste spielen. Solche Fälle vertuschten Mordes habe es gegeben, "aber ich bin kein Krimi-Autor; ich will als Romancier die Brüsseler Realität verdichtet abbilden, also keinen Krimi schreiben, sondern die Vertuschung eines Kriminalfalls schildern."
Die literarischen Fragen, die sich bei der Arbeit an einem Roman stellen, hat Menasse im Roman selbst kurz abgehandelt - in seiner Poetik des Konters freilich auch zugunsten der erzählerischen Freiheit gelegentlich unterwandert. "Du bist ein guter Leser", lobte er den Moderator.
Und als Schlusswort sagte Robert Menasse: "Ich vertraue darauf, meine Damen und Herren, dass auch Sie zumindest glückliche Leser sein werden."
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