Im Gespräch
Siebziger Jahre
30. 9. 2016 / Von Klaus Zeyringer
Eine Zeitreise im Wort, mit Barbara Frischmuth und Peter Huemer
Auf diese Zeitreise wollten sehr viele mitkommen. Der Saal im ULNOE war gefüllt, die Stimmung nicht nur retrospektiv, sondern konzentriert und zwischendurch oft ausgelassen heiter. Es hatten wohl viele im Publikum schon die Ausstellung auf der Schallaburg besucht und waren derart eingestimmt.
Der Rückblick bringt Signale, Bilder, Symbole, Namen. Und Fragen: Ist es Nostalgie? Sind wir im Nachhinein klüger? Was ist geblieben? Was war angelegt, was hat sich stark verändert? Auf dem Podium von Transflair - es ist die 56. Folge der Serie - antworten zwei Persönlichkeiten, die am "Aufbruch" der siebziger Jahre wesentlich beteiligt waren, kulturell und medial: Barbara Frischmuth und Peter Huemer.
Nach dem Bruch von 1968 brachte das folgende Jahrzehnt tatsächlich einen Aufbruch. Bruno Kreisky, der 1970 Bundeskanzler wurde, rief in seiner ersten Regierungserklärung die Jugend, die Künstler und Intellektuellen dazu auf, "ein Stück Weges miteinander" zu gehen. Bald saßen gelegentlich Schriftsteller beim Bundeskanzler zum Frühstück.
"Freiheit" statt "Sicherheit"
Es folgten Bildungsexplosion, Mechanisierung, Mediatisierung. Bei einer Enquete gaben 1971 fast die Hälfte der Befragten an, im Laufe der letzten zwölf Monate kein Buch gelesen zu haben - ob das heute besser ist? Während 1955, im Jahr des Staatsvertrages, 6,4 Prozent der Haushalte über einen eigenen PKW verfügten, waren es 1974 dann 49 Prozent, Waschmaschinen waren von 1,7 auf 64 Prozent gestiegen, Fernsehgeräte von 0,06 auf 69 Prozent. Der Diskurs-Oberbegriff war Freiheit, Emanzipation auf allen Gebieten. Seit geraumer Zeit leben wir nunmehr unter dem Diktum der "Sicherheit".
Von 1970, als Kreisky an die Regierung kam, bleibt das symbolträchtige Bild von Willy Brandts Kniefall in Warschau im Gedächtnis. Die Rote Armee Fraktion wurde gegründet. Bei der Fußball-WM in Mexiko und im nächtlichen Fernsehen, erstmals in Farbe, begeisterten das Match Italien gegen Deutschland und Weltmeister Brasilien mit dem genialen Pelé. Die Beatles trennten sich, Let it Be hieß das letzte Album. Die Stones machen bis heute weiter. Es kam das Album Deep Purple in Rock heraus, Led Zeppelins Whole Lotta Love wurde zum Hit. Die Disco-Welle begann, Jimmy Hendrix starb. Ins Wohnzimmer lieferte das TV den ersten Tatort, im Kino lief der Schulmädchen-Report, der es bis 1980 zu zwölf Folgen brachte. In Cannes zeichnete man die Antikriegs-Komödie Mash mit der Goldenen Palme aus. Im Radio hörten wir Ö3, die Musicbox mit André Heller, den Schalldämpfer mit Axel Corti. Heute hat Ö3 damit gerade noch den Namen gemein.
1971 brachte Stanley Kubricks Clockwerk Orange einen Kinoschock, während im Fernsehen das simple Dalli Dalli mit Hans Rosendahl startete. Heinrich Böll wurde zum PEN-Präsidenten gekürt, ein Jahr später erhielt er den Nobelpreis. Franz Jonas gewann zum zweiten Mal die Bundespräsidentenwahl, diesmal gegen Kurt Waldheim - es gab keine Wahlkarten, keine Anfechtungen.
1972 schlossen die Olympier Karl Schranz von den Winterspielen aus. Die Sommerspiele in München unterbrach ein Attentat von Palästinensern gegen Israelis, dieser erste "Schwarze September" formte die Rezeptionsmuster bis Nine Eleven in New York.
1973 bewirkte die Ölkrise, dass ein Wochentag auf dem Auto affichiert sein musste, an dem man nicht fahren durfte. 1974 erschien Franz Innerhofers Buch Schöne Tage, fortan sprach man vom österreichischen Antiheimatroman. 1975 endete der Vietnamkrieg, im Wiener OPEC-Gebäude spielte sich eine Geiselnahme ab. 1976 publizierte Barbara Frischmuth Die Mystifikation der Sophie Silber, im Fernsehen brachte Peter Huemer den Club2 ins Programm. 1977 kam Star Wars in die Kinos, die erste Nummer der Zeitschrift "Emma" in die Kiosks.
"Rache für Königgrätz"
1978 wurde der Name einer argentinischen Stadt (deren Bevölkerung bis heute nichts davon weiß) zum Signal für das österreichische Selbstbewusstsein, der Wiener Bürgermeister bezeichnete den Fußballsieg über die Deutschen als "Rache für Königgrätz", seither gibt es in Wien einen Cordobaplatz. Dass in Córdoba, in der argentinischen Militärdiktatur, unweit des Stadions auch an diesem Tag gefoltert wurde, interessierte kaum.
1979 erlebte der Iran den politischen Umsturz, der bis dato wirkt. In England wurde Margaret Thatcher Premierministerin.
Darüber lasen und sprachen Barbara Frischmuth und Peter Huemer auf dem Transflair-Podium.
Barbara Frischmuth kommt aus Altaussee, sie hat in Graz und auch in der Türkei studiert. Als einzige Frau war sie Mitglied des legendären Forum Stadtpark, 1970 erhielt sie ein Staatsstipendium für Literatur. Zwei Jahre zuvor war ihr Buch Die Klosterschule erschienen, montierte Erziehungs-Sätze, denen Phantasiebilder des Traums gegenüberstehen.
1973 erhielt sie den Wildgans-Preis und war an der Gründung der "Grazer Autorenversammlung" beteiligt, die das literarische System in Österreich völlig veränderte. Noch im Suhrkamp-Verlag publizierte sie 1973 Das Verschwinden des Schattens in der Sonne, über eine Studentin der Orientalistik, die in die Türkei reist. Danach ging sie zum Residenz-Verlag, damals der Inbegriff für österreichische Literatur. Nach der Sophie Silber legte sie dort 1978 Amy oder die Metamorphose, 1979 Kai oder die Liebe zu den Modellen vor. Seither hat Barbara Frischmuth viel, viel publiziert, Kinder- und Jugendbücher, Hörspiele und Libretti, Übersetzungen und Gartenbücher. Und Romane, in der aktuellen Situation besonders empfehlenswert Die Schrift des Freundes (1998) über einen türkischen Aleviten in Wien und das Überwachungssystem des Innenministeriums.
LASK bedeutet Leidensfähigkeit
Peter Huemer kommt aus Linz, von seiner Leidensfähigkeit zeugt, dass er immer noch Anhänger des dortigen Fußballclubs LASK ist. 1968 promovierte der Historiker mit der Dissertation, die einen heute neuerlich zu bedenkenden Titel trägt: "Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich". 1971 erhielt er dafür den Leopold-Kunschak-Preis. Seine zahlreichen Essays, Aufsätze, Artikel hat er mehrmals zwischen zwei Buchdeckel gebracht, vor allem jedoch ist Peter Huemer durch seine Arbeit im ORF berühmt geworden. 1969 hat er dort begonnen, bis 2002 ist er geblieben. Danach hat er, weil er den öffentlich-rechtlichen Sender so wichtig findet, oft und oft seine konstruktive Kritik geäußert und wurde zum Mitbegründer der Plattform "Rettet den ORF" (ob der noch zu retten ist, mag man sich fragen). Peter Huemer ist bis heute ein hochgeschätzter, wohl der bekannteste Moderator des Landes, viele seiner Gespräche sind legendär. 2004 ehrte ihn die Republik mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik.
Für das Klima der siebziger Jahre besonders bedeutend war die Diskussionssendung Club2 im ORF. Peter Huemer hat sie miterfunden und geleitet. Ein heute im TV unvorstellbares Setting: nicht begrenzte Sendezeit, nur die braune Ledergarnitur war ausgeleuchtet, man konnte tatsächlich richtiggehend diskutieren.
Auf den "unglaublich spannenden Generationsbruch in der österreichischen Literatur", der Ende der sechziger Jahre eintrat, verweist Peter Huemer auf dem Transflair-Podium. Eine richtiggehende Machtübernahme - noch "bevor Kreisky und die Sozialdemokraten ans Ruder gekommen sind und eine Umgestaltung der österreichischen Gesellschaft begonnen wurde, ist es in der Literatur passiert."
"Bist du deppert"
Sie habe damals begriffen, sagt Barbara Frischmuth, dass "etwas im Gange war". Es seien für sie jene Jahre gewesen, in denen sie entscheiden musste, ob sie sich ganz auf die Literatur konzentrieren wolle. "Das Verschwinden des Schattens in der Sonne" erschien als "singulärer Akt", da sich in der Zeit hierzulande niemand mit der Türkei beschäftigte. In Rezensionen war von "hinten in der Türkei" die Rede. Danach beschloss sie, die Position der Frau in den Fokus zu nehmen und für Kunst, die von Frauen gemacht wird, eine weibliche Ahnengalerie zu erstellen. Als sie begann, einen Feenroman (Die Mystifikation der Sophie Silber) zu schreiben, meinte Peter Turrini: "Bist du deppert".
Das "Frausein" sei im Grazer Forum Stadtpark der Anfänge für sie kein Thema gewesen. "In Wien war das anders. Je avantgardistischer die Kollegen in Wien, desto machistischer." Sie selbst nennt sich eine "natural born feminist". Sie sei bei einer Club2-Sendung, in der es um Homosexualität ging, dabei gewesen, erzählt Barbara Frischmuth: "Da ist etwas passiert, das meine Distanz zum damals zur Schau gestellten Feminismus bestärkt hat. Eine sich selbst als Radikalfeministin bezeichnende Frau hat sich dann vom Moderator Günther Nenning auf den Po grapschen lassen und ist mit ihm abgezogen. Und ich habe mir gedacht: Weit kanns mir dem Radikalfeminismus nicht her sein." Darauf Huemer: "Dass sie mit dem Nenning abgezogen ist, spricht nicht gegen ihren Radikalfeminismus, dass sie sich öffentlich auf den Hintern hat greifen lassen, spricht allerdings schon dagegen."
In der Folge liest und erzählt Peter Huemer über den legendären Club2, eine Sendereihe, "die in ihrer Zeitgeistigkeit nur in den siebziger Jahren entstehen und überleben konnte". Der Rundfunk war seit Beginn der Zweiten Republik voll in der Hand der beiden Großparteien. Jeder Posten sei dreifach besetzt, scherzte man, "von einem Schwarzen, einem Roten und von einem, der die Arbeit macht". 1964 hatte das Rundfunkvolksbegehren Erfolg, zwei Jahre später wurde der ORF gegründet, auch dies ein "unglaublicher Aufbruch", die "Vision eines modernen Österreich". In einem weitgehend unmodernen Österreich habe er "den Anschluss an die Zukunft bedeutet". In diesem Kontext war der Club2 der Ausdruck der Kultur offener Debatten, "um die Gesellschaft durchlässiger zu machen": "Ein radikales Demokratiespiel im TV", bald mit hohem internationalen Ansehen, mehrmals kopiert.
Nina Hagen
Den berühmten Club2 mit Nina Hagen (1979) schildert Huemer auf höchst interessante und amüsante Weise. "Der wirkliche Grund der immensen Aufregung", sagt er, "war nicht der drastische Sexualunterricht. Es ging vielmehr um den Stil der Sendung", da das Chaos im Glashaus Fernsehen ausgebrochen sei. Der Skandal habe gezeigt, wie gespalten die Gesellschaft trotz neun Jahre Kreisky-Politik immer noch gewesen sei. Übrigens habe der ORF das Material sofort gesperrt.
Das Publikum blickt gespannt und lacht und staunt.
Barbara Frischmuth erzählt, dass schon der Film, den Ferry Radax 1967 über das Forum Stadtpark gedreht hatte, heftige Empörung erregte und vom Bayrischen Fernsehen jahrelang unter Verschluss gehalten wurde: Darin sieht man sie selbst, im Nachthemd als Nonne verkleidet, aus der "Anstandsstunde" vorlesen und in einen Teich springen.
Sie knüpft an Huemers Satz an, es habe ja damals andere, wichtigere Themen gegeben. Der "Umweltgedanke" habe sie sehr interessiert, das sei ein Grundthema im Sophie Silber-Roman, aus dem sie nun - erstmals seit Jahrzehnten - liest.
In diesem Text seien genau die zentralen Streitfragen der siebziger Jahre angesprochen, sagt Peter Huemer: der Umweltschutz und die Befindlichkeit von Frauen. Er verstehe aber auch das "Bist du deppert" von Peter Turrini, da sich ja Frischmuths Feenroman stilistisch, im literarischen Zugang ganz deutlich von der damaligen Literatur in Österreich unterschied. Das Märchenhafte, antwortet Frischmuth, sei das Einzige gewesen, was damals niemand gemacht habe. Und darin habe sie sich auszudrücken verstanden, indem sie eine österreichische Tradition, etwa Ferdinand Raimund, aufgegriffen habe.
Wichtig und bezeichnend für die Ära Kreisky, fasst Huemer zusammen, sei der große Zuwachs an Wohlstand, deutlich über dem OECD-Schnitt: "Ab 1979 hat Österreich zu den reichsten Staaten der Welt gehört - gleich nach dem Weltkrieg war das völlig unvorstellbar gewesen." Zudem sei in dieser Zeit das Projekt der Nationsbildung abgeschlossen worden. "Dabei wurde wie bei jedem Prozess des nation building gelogen, dass sich die Balken bogen. Es wurde erklärt, dass wir nie etwas mit der deutschen Geschichte zu tun hatten, obwohl wir gerade erst tausend Jahre in einem gemeinsamen Reich gewesen waren." Das zentrale Element war die Abgrenzung von den Deutschen, so stand in den Jahren nach 1945 auf dem Stundenplan der Schulen nicht "Deutsch", sondern "Unterrichtssprache".
Empörung über die Disqualifikation von Schranz: Es ist, als hätten sie uns schon wieder den Thronfolger erschossen.
Seit der Ära Kreisky sei unzweifelhaft festgestanden, "ja, wir Österreicher sind eine eigene selbständige Nation. Das hing mit den Erfolgen dieser Zeit, mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und mit dem internationalen Ansehen des Bundeskanzlers zusammen." Mit den vielen Reformen, die große soziale Veränderungen brachten, sei es ein Jahrzehnt gewesen, das in der Rückschau für alle, die es bewusst erlebt haben, "ziemlich großartig war".
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