Im Gespräch
Fiktionen und Herrschaft
16. 4. 2016 / Von Klaus Zeyringer
Von Staatsfeinden, zivilem Ungehorsam und der Verpflichtung der Kunst
Diesmal saßen wir zu viert auf dem Podium. "Transflair" gab wieder die Samstagsmatinee beim Festival "Literatur und Wein", wie in den letzten Jahren war es draußen sonnig und im vollbesetzten Drinnen hochspannend. Zur 55. Folge der Serie hatten wir Kathrin Röggla und Martin Balluch geladen, dessen Hund Kuksi neben ihm Platz nahm, sich gelegentlich kurz erhob, ins Publikum schaute, sich drehte und niederließ.
Zu Gast waren zwei Persönlichkeiten, die mit ihren Texten und Aktionen im Gesellschaftlichen stehen, soziale und kulturelle Entwicklungen verfolgen.
Literatur vermag einerseits den Elfenbeinturm, andererseits den Marktplatz zu bespielen, und dazwischen findet sie viele Orte.
Man mag den Eindruck haben, dass aktuell - da die Schlagwörter Angst und Sicherheit täglich an Gewicht zu gewinnen scheinen - soziokulturelle Reaktionen, zivile sowie auch literarische Einmischungen besonders notwendig seien. In einer Zeit, die uns oft und oft ihre Umbrüche vor Augen führt, brauchen wir dringend Stimmen, die das Vorfallende kritisch betrachten, ja dagegen vorgehen. Offenbar stehen Überwachung und Abgrenzung gegen Freiheiten und Emanzipation, offenbar werden gerade Errungenschaften von Zivilisation und Demokratie geringer geschätzt oder gar außer Kraft gesetzt.
Wie sehen und verstehen sozial sowie kulturell Engagierte die Situation? Was lässt sich machen? Wie vermag das Wort, die Literatur, wie vermag Erzählung zu reagieren? Darüber sprachen und dazu lasen Röggla und Balluch an diesem sonnigen Samstagmorgen im Literaturhaus.
Neuer, junger Erzählton
Kathrin Röggla ist in Salzburg aufgewachsen, sie lebt schon lange in Berlin, wo sie Vizepräsidentin der Akademie der Künste ist. Sie hat zahlreiche Prosawerke und Theaterstücke hervorgebracht, dafür wurde sie vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. 1997 debütierte sie fulminant mit dem Roman Abrauschen und dem neuen Erzählton einer jungen Generation, die sich an ihrer Umwelt reibt.
Fortan sind Rögglas Werke auch Zeitdiagnosen. Das Drama junk space (2004) ist eine Studie der Entfremdungen, der Brüche zwischen Unternehmen und Menschen, Märkten und Sprachen, Gesellschaften und Individuen. Auswirkungen der Ökonomisierung zeigen das Stück draußen tobt die dunkelziffer (2005) und der Roman wir schlafen nicht (2004), der die indirekte Rede ökonomischer Existenzen montiert, deren Träume monetär angelegt sind. Auch in der Prosa die alarmbereiten (2010) werden Figuren in ihrer Künstlichkeit als Typen gesellschaftlicher Entwicklung erkennbar, deutlich in einer instrumentalisierten Angst.
Jüngst hat Kathrin Röggla gesammelte Essays und Dramen im Band besser wäre: keine sowie ihre drei Vorlesungen der Saarbrücker Poetikdozentur unter dem Titel Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen vorgelegt. Es geht, schreibt Röggla hier, auch um den "Aufbau eines widerständigen symbolischen Netzwerks gegen die faktenschaffende Macht des realen Herrschaftssystems, das mehr und mehr mit Fiktionen gegen unsere realistische Haltung arbeitet, um den eigenen Herrschaftsraum zu erhalten".
Ein "widerständiges Netzwerk", nicht nur im Symbolischen, sondern stark im Konkreten hat Martin Balluch geschaffen. Der Mathematiker, Physiker, Astronom und Philosoph ist seit Jahrzehnten für Umwelt- und Tierschutz aktiv, besonders im "Verein gegen Tierfabriken". Er war Universitätsassistent in Wien, Heidelberg und Cambridge, 2012 wurde er in Paris mit dem Internationalen Myschkin-Preis für Kultur und Ethik ausgezeichnet.
Unfassbare Kriminalisierung
Vorausgegangen war eine gewaltige Überwachung: Vier Jahre lang wurde Balluch von der Polizei observiert, durch Undercover-Agentinnen bespitzelt, dann dreieinhalb Monate in Untersuchungshaft gesteckt und in einem vierzehn Monate dauernden Prozess wegen Bildung einer angeblich kriminellen Organisation als Tierschützer angeklagt, zwar freigesprochen, jedoch wirtschaftlich ruiniert. Darüber gibt sein umfangreiches dokumentarisches Buch Tierschützer. Staatsfeind. In den Fängen von Polizei und Justiz (2011) erschütternd Auskunft. Es erzählt die Geschichte der schier unfassbaren Kriminalisierung, es führt einen demokratiepolitischen Abgrund vor Augen, eine schreckliche Willkür der Behörden.
2009 hatte Balluch den Band Widerstand in der Demokratie. Ziviler Ungehorsam und konfrontative Kampagnen publiziert. Hier beschreibt er verschiedene Aktionsformen und analysiert sie, wägt ab, was demokratiepolitisch zulässig sei. Wesentlich: "Das Gewaltmonopol bleibt beim Staat"; in bestimmten Situationen und Formen seien jedoch Gesetzesüberschreitungen notwendig, damit sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern. "Wo staatliche Autorität und privatwirtschaftlicher Einfluss die Gemeinwohlverpflichtung schwer vernachlässigen, ist der gesetzwidrige Widerstand also in gewisser Form zulässig und sogar geboten."
Und jüngst folgte Martin Balluchs berührendes Plädoyer für Autonomie und Rechte der Tiere Der Hund und sein Philosoph - beide saßen bei diesem "Transflair" auf dem Podium im Literaturhaus.
Was Martin Balluch zu Kathrin Rögglas Satz meine, dass das reale Herrschaftssystem "mehr und mehr mit Fiktionen gegen unsere realistische Haltung" arbeite, habe er das doch am eigenen Leib erfahren müssen?
Die Methodik, mit der mir ein Maulkorb umgehängt wird, ist tatsächlich sehr phantasievoll und erstaunlich vielschichtig.
"Steuerprüfungen sind ein klassisches Mittel", sagt Kathrin Röggla, sie kenne das nun auch von ihrem ungarischen Verleger.
Die Behörden seien mit zwei Lastautos vorgefahren, erzählt Balluch, und hätten die Bürotür eingeschlagen, Akten und Mobilar des Vereins mitgenommen, für zehn Monate behalten, sodass kaum Arbeit möglich gewesen sei. "Wir mussten gerichtlich erzwingen, das wieder zu bekommen. Und kaum hatten wir es, ist am nächsten Tag die Steuerprüfung gekommen und hat die gesamte Buchhaltung wieder weggetragen, und zwar für eineinhalb Jahre."
Wenn man Tierschützer. Staatsfeind liest, hat man tatsächlich den Eindruck, dass die Behörde über die Jahre eine Fiktion aufbaute, um Unliebsame abzuservieren.
Ja, sagt Röggla, ihr Satz von den Fiktionen des Herrschaftssystems sei von Michael Moores Worten über den Irakkrieg inspiriert: "Wir leben in Zeiten, in denen Dinge fingiert werden, um etwas durchzusetzen." Mit einem Beispiel in Deutschland habe sie sich genauer beschäftigt: Um die Erweiterung des Frankfurter Flughafens gegen Bürgerinitiativen durchzubringen, hätten die Betreiber viele konstruierte Geschichten und auch bezahlte Gegendemonstrationen eingesetzt. Eigene PR-Agenturen simulieren politischen Protest.
Die Behörde, die nichts findet, wird fast literarisch tätig
Er habe Teile der Berichte über die vierzehn Monate dauernde Observierung später lesen können, sagt Balluch, und da stehe: "Es wurde nichts entdeckt, und das beweist, dass es sich hier um besonders perfide Kriminelle handelt." Darauf Röggla: "Wenn also die Wirklichkeitsdarstellung nicht passt, haben die Fakten Pech gehabt." Die Behörde, die nichts findet, wird erfinderisch, also fast literarisch tätig. Dem gegenüber stehen Autorinnen und Schriftsteller, die dokumentarisch arbeiten.
Für die zwei möglichen Verfahren, die literarisch-fiktionale und die dokumentarische, stehen die Texte von Röggla und Balluch. Sie liest an diesem "Transflair"-Morgen eine kurze Erzählung über eine Schweigeminute bei einer "Tatsachenkonferenz", bei der debattiert wird, ob "Ausnahmezustand" herrsche. Er liest kurze theoretische Passagen aus Widerstand in der Demokratie und die Schilderungen der Hausdurchsuchung und des Gefängnisalltags aus Tierschützer. Staatsfeind.
Diese Art von Konferenzen, Besprechungen, Seminaren, wie sie Röggla erzählt, entwickelt eigene Diskursformen, "Opferqualität" heißt es da, und - man kann sich bei Thomas Bernhard wähnen - "Schweigeminutenbegleitgeräusch". Die Autorin nimmt Bausteine aus der Wirklichkeit, erfindet Realität und macht aus beiden Literatur. Der Prozess des Schreibens sei so vielschichtig, dass man Politik und Ästhetik gar nicht trennen könne. Ihre Grundfrage laute: "Wo arbeite ich mit an dem System, das mich gleichzeitig unterdrückt."
"Meine Bücher sind aus der Verzweiflung entstanden"
Bei Martin Balluch stellt sich die Frage nach Verfertigung und Bedeutung der Texte ganz anders. Er hat Traumatisches erlebt, das er in seiner Schilderung nachvollziehbar öffentlich erzählt. "Meine Bücher sind aus der Verzweiflung entstanden", sagt er, "eine Art Verteidigungsschrift." Das habe sichtbar funktioniert, da die Richterin während des Prozesses vierzehn Monate lang sein Buch auf dem Tisch liegen und es mit unzähligen Farbzettelchen versehen hatte.
Es sei wichtig, zwischen den Werte-Inhalten und der Methode zu trennen, sagt Balluch über Protestformen, die nunmehr auch von Rechtsextremen gelegentlich angewendet werden. "Demokratie ist eine Methode, über Werte zu diskutieren. Der Wert Demokratie ist zu hoch, um ihren Boden zu verlassen. Das bedeutet auch, einer gegenteiligen Meinung denselben Freiraum zu geben." Jede Aktionsform, die die öffentliche Diskussion fördere, sei legitim; allerdings müsse man die schwierige Grenzziehung des Legitimen kritisch im Auge behalten.
Er finde es sehr wichtig, gesellschaftliche Themen literarisch aufzuarbeiten. "Die Kunst", schließt Martin Balluch, "hat diese Verpflichtung."
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Martin Balluch
Klaus Zeyringer
Kuksi